Das Wetter war an diesem Sonnabend kühl und regnerisch. Die ursprüngliche Idee, wieder mehrere Schauplätze im Dorf zur Bühne zu machen, wurde von der Runde verworfen. Stattdessen also ein kleiner Lesemarathon in der neu gestalteten Veranstaltungsetage des Ökospeichers. Zehn Autor*innen präsentierten sich mit zehn Texten:
Ute Apitz berlinerte sich in ihrer Textperformance, unterstützt durch das gelegentliche Boingboing einer Maultrommel durch das Thema Portschlüssel in eine eher düstere Zukunft, wurde aber zum Schluss versöhnlich:
„So, jenuch jelabert von wejen ‚Portschlüssel inne Zukunft‘. The portkey is in the box. Where is the box? Träum weita, aba mit off‘ne Oogen und klarem Blick und gloob dran, dass de Menschheit nich janz vablödet und sich sowat wie dit Ökodorf Wulkow durchsetzt. Uff höherer Ebene vasteht sich.“
Ute Apitz
Connie Roters hat in ihrer nachdenklichen Zukunfts-Erzählung „Paradies“ das Angebot aus dem Inspirationsworkshop aufgenommen und die Ruine der Typhusmühle zum Schauplatz gemacht, in dem sich tatsächlich ein Portschlüssel im Harry-Potterschen-Sinne befindet und in eine Zukunft führt, die aber letztlich nicht alternativlos ist.
Dann griff er meine Hand. Der Raum um uns drehte sich, schneller und schneller, verschwamm im Sog einer Spirale. Ich schloss die Augen, ließ mich im kalten Strahl treiben. Meine Angst verflog, verwandelte sich in Freude. Mir wurde angenehm warm.
Connie Roters
In „Der Morgen am See“ von Gloria Ballhause erinnert sich eine 70jährige während eines Konzertbesuchs an eine Landschaft, die durch den Klimawandel zerstört wurde. Gedanken zur eigenen Vergänglichkeit und zur Entfremdung mit der Tochter klingen an.
„Es war der Morgen, der ihr etwas Altes vorgespielt hatte, denkt Evelyn. Er war wie früher gewesen, hatte mit seinen nebelfrischen Armen die Hügel umschlungen und die verdorrten Wiesen mit Tau benetzt. Evelyn war hinunter zum See gegangen, wie früher als sie Mikaela dabei noch an die Hand nahm. Um den See hatten sie gekämpft, alle in den umliegenden Tälern und Dörfern – und ein wenig Zeit gewonnen, ein Jahrzehnt noch oder zwei, bevor er sich endgültig in eine trockene Mulde verwandeln würde, das Schilf verschwinden und die silbrigen Schöpfe der Uferweiden in der Erinnerung leben würden.
Gloria Ballhause
Kerstin Finkelstein thematisiert in „Fünf Tage Wulkow“ humorvoll den eigenen Schreibprozess. Die Zukunft erscheint darin als kurzfristige Deadline der Textabgabe. Innerhalb dieses Rahmens scannt sie das Dorf auf Schauplatz-Tauglichkeit einer wilden Liebesgeschichte ab, in der Pelzmäntel auf nackter Haut eine wichtige Rolle spielen und der Steg hinterm früheren Kräutergarten beim Liebesspiel zusammenkracht. Nebenbei wird das Dorf mal ins Energiespardunkel geknipst und mal zur opernballhaften Eventkulisse hochgejubelt. Ein lustiges Durcheinander.
Auf dem Steg in dem Wäldchen hinter der Ruine kommt es zu einer ersten stürmischen Zusammenkunft. In der Szene wird nebenbei geklärt, warum der Steg jetzt kaputt ist, die Biber wären rehabilitiert und alle Wulkower stolz, dass eine der Ihren durch pure Leidenschaft für die Ewigkeit eingepflockte Holzsäulen zum Bersten bringen konnte.
Kerstin Finkelstein
Maik Gerecke hat in „Geld spielt keine Rolle“ seine Geschichte vom vergangenen Jahr weitergeschrieben. Der Ich-Erzähler ist ein Baugutachter, der in Wulkow seine Verflossene aus anarchistischen Hausbesetzer-Zeiten wiederfindet. Diese ist inzwischen Immobilienmillionärin. Gemeinsam wollen sie nun mit ihrem Geld die Lost Places ihrer Jugend retten.
In einem kleinen italienischen Ort in Ligurien, »wo die Felsen das Lied des Meeres singen« und wo Marla vor zwei Monaten einen Olivenhain gekauft hat, frage ich sie dann nochmal: »Warum Wulkow? Die Restaurierung wird dich ein Vermögen kosten.« Aber sie sieht mich nur an, sagt: »Tobi«, und Marla sagt nie meinen Namen, wenn nicht gleich etwas Wichtiges kommt, »wir retten die Vergangenheit, die Gegenwart und vor allem die Zukunft. Koste es, was es wolle. Und in Wulkow fangen wir an.«
Maik Gerecke
Jol Rosenberg hat sich in der Erzählung „Durch die Tür“ offensichtlich vom Gebäude und vom Begriff des Ökospeichers inspirieren lassen. Jol schildert eine erste Begegnung mit einem „Lebendigen Haus“, das von einer KI gesteuert wird und mit den Bewohnern gleichsam zu einem Ökosystem verschmilzt, einer Oase in einer Welt, die in vieler Hinsicht kaputt ist.
Ich legte meine Handfläche auf das glatte Holz. Es vibrierte leicht, ein feines Summen, das eine Vielzahl von Tönen in meinen Körper zu schicken schien, und ich hatte das unangenehme Gefühl, dass es mich ablehnte. Zurückstieß. Die Tür blieb geschlossen. ‚Hach je!‘, hörte ich Simak von drinnen. ‚Liedfeld ist ein sehr (… ) sensibles Haus….“
Jol Rosenberg
Die Lyrikerin Ursula Kramm-Konowalow drückt in ihrem Gedicht „Heimweh nach Zukunft“ Angst vor einer um sich greifenden Leere aus und findet zum Schluss eine freundliche Zukunftsvision mit einem eindrücklichen poetischen Bild:
…
Ursula Kramm-Konowalowzukunft ist
ein septembertag
in der prignitz
wenn du zu deinem
vergnügen fahrrad
fährst und der tag
legt dir reife birnen
mitten in den feldweg
nur achtsam
mußt du sein
dass keine dir
auf den kopf fällt
Heidi Ramlow lässt in „Der Drache von Wulkow“ ein kleines Mädchen einen lockeren Stein aus der Schlossruine ziehen. Darauf entwickelt sich vor den Augen des Kindes ein bizarres Märchen mit einem alles verschlingenden Drachenmonster, das sich auf einen Pfeifwettbewerb vorbereitet. Letztlich ist es das Kind, das mit dem Steinchen den Schlüssel in der Hand hält, diesen Albtraum wieder abzustellen.
Wir Drachen, das merkt euch, überleben alle und alles. Millionen Jahre haben wir hinter uns. Auf vielen Planeten. Ich will den Pfeifgesang dieses Jahrtausends gewinnen! Das bringt Unsterblichkeit in den Klang der Zeiten!
Heidi Ramlow
Für den Frankfurter Maik Altenburg ist eine Reise nach Wulkow eine Reise in die Landschaft seiner Kindheit. Sie inspirierte ihn zu einem poetischen Essay über das Reisen schlechthin, über Unrast und Fernweh. Er zitiert Raumfahrer wie Juri Gagarin und Alexander Gerst in ihrer Wahrnehmung der Schönheit und Zerbrechlichkeit des Planeten. Ausgangspunkt der Reise ist ein Geräusch, das den Städter irritierte.
Irgendetwas summt, wie eine kaputte Straßenlaterne in der Stadt. … Brummt hier irgendwo ein Transformatorenhäuschen? Ich sehe keines. … Und dann entdecke ich doch noch die Quelle: Über mir im Baum entsteht das Geräusch auf ganz unerwartete Weise. Es sind hunderte Bienen, geschäftig unterwegs in den Zweigen der Linden. Das Geräusch ihrer Flügel potenziert sich zu einem elektrischen Summen. Ein Linden-Bienen-Trafo. Ich bin bezaubert. Das kann doch nur ein Portschlüssel sein. Ich mache mich reisefertig.
Maik Altenburg
Heinrich von der Haar sieht die Zukunft in der Gegenwart. Für ihn ist die Wiederherstellung natürlicher Landschaftselemente, wie er sie in Wulkow kennengelernt hat, ein Gegenentwurf zu jenen ausgeräumten Industrieagrarlandschaften, deren Entstehung er in seiner Jugend im Münsterland kennenlernte. In „Das natürlichste Fleckchen“ berichtet der Ich-Erzähler in einem Telefonat mit dem Enkel aus dieser Zeit.
Eines Tages kam der Landvermesser wieder. Ich weiß noch, wie ich gegen den angeschrien habe. Aber mit ihm war die Raupe gekommen. Die riss alles weg, Kopfweiden mit den Vogelnestern, Brombeergebüsch mit den Wildschweingängen, alte Gravensteiner- und Boskop-Bäume. Der Tümpel, alles, meine Milchsterne, mein Versteck, alles planiert und kahl. Der ganze Zipfel zwischen den drei Feldern. Überall wurden die alten Wassergräben mit den Wallhecken und die Tümpel zugeschüttet.
Heinrich von der Haar